Die Medizin erscheint den Ärzten - ob sie nun in der Lehre, der Forschung oder in der Krankenversorgung tätig sind - als ein Bereich mit strengen Gesetzmäßigkeiten und allgemeingültige Regeln. Diese sollen ermöglichen, eine dem jeweiligen Fall angemessene Behandlung durchzuführen, die das Notwendige und Zweckmäßige umfaßt. Daraus kann die Vorstellung von einem objektiv bestimmbaren Bedarf an Leistungen sowie der erforderlichen Ressourcen entstehen. Die erforderlichen Ressourcen müssen nach ärztlicher Überzeugung unter allen Umständen verfügbar sein. Ein Menschenleben wird als unbezahlbar betrachtet. Ein Leistungsverzicht wegen finanziellen Mangels scheint folgerichtig ethisch ebenso unvertretbar wie die Abwägung des Nutzens einer Verwendung der eigentlich für die medizinische Versorgung benötigten Mittel für andere Zwecke.
Ein Vergleich von Leistungsdaten verschiedener Systeme zeigt, daß offenbar neben den unstrittig leistungsbestimmenden spezifischen Faktoren Krankheitslast und technischer Stand der Medizin noch anderes Einfluß haben muß. Es sind dies die unspezifischen Rahmenbedingungen, zu denen die Struktur des Leistungsangebotes, die Höhe der Behandlungskapazitäten und die Art der ökonomischen Anreize zählen. So unterscheidet sich die Zahl der Krankenhauseinweisungen fast um den Faktor 2, nämlich etwa 100 Einweisungen pro 1.000 Einwohner in den Niederlanden und 180 pro 1.000 Einwohner in der Bundesrepublik. Der Arzneimittelverbrauch liegt in Frankreich etwa doppelt so hoch wie in Deutschland und in Deutschland etwa doppelt so hoch wie in Dänemark. Und die Zahl der Arzt-Patienten-Kontakte ist in Deutschland, Italien und Japan mit ca. 12 doppelt so hoch wie in den USA, Frankreich, Belgien und Großbritannien mit 5 bis 6.
Solche Unterschiede sind nicht mit der Vorstellung der Medizin als einer Wissenschaft vereinbar, in der das Leistungsgeschehen von Bedürfnissen der Patienten und den technischen Möglichkeiten bestimmt wird.
Welchen Einfluß die Rahmenbedingungen auf die Leistungserbringung und damit auf den Mittelbedarf aber auch auf die Qualität und das Ergebnis der medizinischen Versorgung haben, ist nicht zu quantifizieren. Ein objektiver Bedarf ist unter keinen Umständen zu bestimmen, d.h. es ist nicht zu sagen, was an Leistungen sachlich erforderlich ist. Damit aber eröffnen sich Möglichkeiten, die Verhältnisse durch eine Beeinflussung der Komponenten Preis, Struktur und Menge der Leistungen in wünschenswerter Weise zu gestalten.
Eine möglichst hohe Effizienz zu erreichen, ist angesichts der höheren Anforderungen an das Versorgungssystem durch die Altersentwicklung und Verschiebungen im Morbiditätsspektrum zwingend erforderlich, da gleichzeitige die Finanzierungsgrundlage infolge eines geringeren Wirtschaftswachstums, einer anhaltenden Langzeitarbeitslosigkeit und dem wachsenden Druck zu einer alternativen Verwendung der öffentlichen Mittel abnimmt.
Mit einem Mehr an Planung und Bürokratie ist dies nicht zu leisten, sondern nur durch die Entwicklung von neuen Anreizsystemen sowie von Managementinstrumenten. In der Sache bedeutet dies den Wandel des bisher leistungserbringerbestimmten zu einem kostenträgerbestimmten System. Dafür müssen die Kostenträger aber zunächst Kompetenz auch für medizinisches Management gewinnen. Denn eine rein ökonomische Betrachtung greift zu kurz: Vergütungsmodalitäten und Struktureigentümlichkeiten können immer nur Mittel zum Zweck sein. Ihre Anwendung setzt voraus, die Ziele zu definieren, die man verfolgen will.
In den USA gelingt dies in zunehmendem Maße unter dem Einfluß des Managed-Care-Konzeptes. Es erweist sich als ein Treibsatz, der das Leistungsgeschehen und das Versorgungssystem in kürzester Zeit dramatisch verändert hat, wie beispielhaft an der Inanspruchnahme von Krankenhäusern zu erkennen ist: In der Bundesrepublik Deutschland entfielen auf 1.000 Einwohner im Jahr 1989 ca. 2.500 Pflegetage, in der Kaiser-Permanente-Versicherung waren es Anfang 1995 310 Tage pro 1.000 Mitglieder, die inzwischen (Juni 1996) auf 200 reduziert werden konnten. Man erwartet bei einer 100% Durchdringung mit Managed Care, daß 45 Pflegetage ausreichend sind.
Die Wirkungen des Wettbewerbs auf die Versorgungsqualität und die Gesundheitlichkeit können nur mit Hilfe fachlicher Kompetenz und auf der Grundlage einer systematischen Befassung mit den einschlägigen Sachverhalten beurteilt werden.
Eine andere Frage betrifft die ethischen Probleme, die sich aus der Notwendigkeit einer Leistungsrationierung ergeben. Sparmaßnahmen, die das Gesamtsystem betreffen, mögen auf Anhieb einsichtig sein und bei Berücksichtigung politischer und wirtschaftlicher Gegebenheiten auch breite Zustimmung finden. Zwangsläufig muß daraus am Ende bei einem identifizierbaren Patienten eine Leistungsverweigerung oder die Option für eine weniger effektive aber kostengünstigere Behandlung folgen. Damit ist nicht nur eine Herausforderung für den einzelnen Arzt verbunden, der die Entscheidung konkret zu treffen hat, sondern auch für die Institutionen, die für Forschung und Lehre verantwortlichen sind: Es muß ihr darum gehen, Kriterien zu erarbeiten, in der Ausbildung zu vermitteln und den Leistungserbringern an die Hand zu geben, die bei möglichst allen gleichgelagerten Fällen zur Anwendung kommen können, wodurch eine willkürliche Leistungsgewährung vermieden wird.
In der Vergangenheit konnte das Gefühl aufkommen, daß für die Zwecke der Medizin Mittel in beliebiger Höhe zur Verfügung stünden. Das war streng genommen nie der Fall, wie die Endlichkeit der Zeit beweist, die einem einzelnen Patienten gewidmet werden kann, wie es der Mangel an Spenderorganen zeigt oder auch die Knappheit an Behandlungskapazitäten auf Teilgebieten - etwa in der Intensivmedizin.
Aufgrund systeminterner und systemexterner Entwicklungen ist nun eine Lage entstanden, die es aus Verantwortung gegenüber den heutigen, vor allem aber auch den zukünftigen Patienten erforderlich macht, sich in systematischer Weise mit Problemen zu befassen, die aus der Knappheit der Ressourcen folgen. Die Disziplinen, die das - unterstützt vor allem durch die Epidemiologie - leisten können, sind die Gesundheitssystemforschung, die Gesundheitsökonomie und die Medizinethik. Sie machen die Medizin selbst und das, was von ihr geleistet wird, zum Forschungsgegenstand. Die medizinischen Fakultäten sollten die Verpflichtung erkennen, sich mit dem Ziel einer effizienten Mittelverwendung, die unter veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen alleine den weiteren Fortschritt sichern kann, den einschlägigen Fragen zuzuwenden.
Michael Arnold
Prof. Dr. Michael Arnold ist ehemaliger Anatomieprofessor. In den letzten fünf Jahren vor seiner Emeritierung hatte er eine Stiftungsprofessur für Gesundheitssystemforschung inne.
Presse MAIL (michael.seifert@uni-tuebingen.de)
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